Leseprobe
„Tod und Leben – Zwei Seiten einer Medaille?“

von Gottfried von Purucker

Was erwartet uns nach dem Tod? Mit dieser Frage wird sich jeder Mensch unweigerlich irgendwann einmal auseinandersetzen müssen. Antworten reichen vom absoluten Nichts über die Himmel und Höllen bis hin zur erneuten Geburt – doch die tieferen Mysterien des Todes wurden aus gutem Grund niemals vollständig offenbart. Auch sind sie viel zu komplex, um ohne vorbereitendes Studium aufgenommen werden zu können. Dennoch wurde ein Wissen herausgegeben, das auf tiefen Wahrheiten beruht. Es enthält den Pulsschlag der Natur, den jeder nachvollziehen kann, ohne sich in Spekulationen zu begeben. Der Lohn ist groß: Der Tod verliert seinen Schrecken, und eine erweiterte Sicht vom Leben gibt Trost, Hoffnung und Zuversicht. 

Schlaf und Tod sind Brüder

Eine der alten Mysterienlehren besagt, dass Schlaf und Tod fundamental eins sind: nicht ähnlich oder parallel, auch nicht unterschiedlich in irgendeinem Sinn außer im Grad, sie sind absolut identisch. Der einzige Unterschied, der vielleicht mehr eine Unterscheidung als ein Unterschied ist, ist der, dass der Schlaf ein unvollkommener Tod und der Tod ein vollkommener Schlaf ist. Diese Tatsache ist der Hauptschlüssel für alle esoterischen Lehren, die über den Tod handeln, denn wenn verstanden wird, was während des Schlafes geschieht, ist der Ariadnefaden gefunden, der zu einem relativ vollständigen Verstehen dessen verhilft, was beim, während und nach dem Sterben stattfindet. Daher ist es so wichtig, während der Lebenszeit die Funktionen des menschlichen Bewusstseins, seine Wirkungsweise und seine Merkmale zu studieren. Ein Mensch, der mit sich selbst bekannt wird, indem er der Mahnung des Delphischen Orakels – „Mensch, erkenne dich selbst!“ – folgt, braucht nur gemäß dieser Aufforderung sein Bewusstsein auszudehnen, um zu erkennen, was während des Schlafes geschieht. Weitet er sein Bewusstsein noch weiter aus, wird er mit dem bekannt, was dem Bewusstsein nach dem Tod widerfährt.  

Kein Leben ohne Tod  

„Tod“ ist weder das Gegenteil von „Leben“ noch ihm entgegengesetzt. Er ist wahrhaftig eine Art des Lebens – eine der Arten oder Modifikationen des Bewusstseins. Dies illustriert die große Wahrheit, dass Tod nur ein Wechsel von einer Phase des Lebens zu vielen anderen ist, die im Einklang mit den Erfordernissen des individuellen Schicksals in regelmäßiger Ordnung einander folgen. Es wäre für keine Wesenheit möglich, auch nur für einen Augenblick zu leben, wenn sie nicht zur gleichen Zeit stürbe. Der christliche Apostel Paulus drückte es folgendermaßen aus: „Ich sterbe täglich“, oder etwas anders gesagt: „Ich sterbe jeden Tag.“  

Diese Aussage bezieht sich nicht exakt auf die bereits erwähnte Tatsache, dass jeder Mensch „stirbt“, wenn er schläft. Vielmehr befindet sich jeder von uns in jedem vorübergehenden Augenblick in einem Prozess der Sterbens, weil sich unsere Körper in einem immerwährenden Wechsel oder Fluss befinden: Ihre Atome sind in einem ständigen und nicht aufhörenden Prozess von Erneuerung oder Wechsel begriffen. Dies bedeutet für sie nichts anderes als eine Art langandauernden Sterbens, das auf die Partikel oder Atome unseres Körpers bezogen kein „relativer“, sondern ein vollständiger Tod ist. So leben wir während der Verkörperung mitten in unzählbaren winzigen Toden. Der griechische Philosoph Heraklit pflegte zu sagen: „Panta rhei“ – alles fließt, das heißt, alle Dinge sowie alle Wesenheiten befinden sich in einem unaufhörlichen Zustand des Fließens oder der Bewegung und folglich des unaufhörlichen Wechsels. Dies wird auch durch wissenschaftliche Erkenntnisse untermauert.  

Evolution und Wechsel als Ausdruck kosmischen Lebens

Nun wird diese unaufhörliche Bewegung, dieser Wechsel von Sterben und Wiedergeborenwerden, gleich ob diese Zyklen nach unserem Empfinden nur wenige Sekunden oder Millionen von Jahren umfassen, in letzter Analyse von dem majestätischen Herzschlag des kosmischen Lebens regiert. Die zahllosen Ströme des Lebens befinden sich in einem ständigen und unaufhörlichen Zustand evolutionärer Bewegung, einer Bewegung oder Evolution, die absteigende und aufsteigende Zyklen durchläuft. Dieses grandiose zusammengesetzte Aggregat von Bewegungen des kosmischen Lebens bringt sich de facto selbst universal zum Ausdruck, sodass auch das infinitesimal kleinste Partikel davon nicht ausgenommen ist. Jede Wesenheit im Universum ist so in ständiger Bewegung von Evolution und Revolution, vom Geist zur Materie und von der Materie wieder zurück zum Geist.  

Jeder von uns ist in diese wirbelnden Zyklen der evolutionären Bewegungen des kosmischen Lebens mit einbezogen. Unsere Inkarnationen oder Reinkarnationen, denen am Ende das Sterben folgt, sind nur die wechselnden Kreisläufe unseres karmischen Geschicks. So ist das, was wir Tod nennen, nur ein neuer Szenenwechsel, eine neue Phase in dem großen evolutionären Drama unserer evolvierenden Selbste.  

Vertreiben wir daher die Furcht vor dem Tod, denn der Tod ist nur ein Wechsel; absolut und wörtlich ist er nur das Einschlafen in den großen Schlaf. Betrachten wir die Tode, die wir sterben, nur als Eintritte in ungeheure und höchst faszinierende Abenteuer, in Reisen oder Pilgerfahrten durch die Räume des Raumes, nur um zu gegebener Zeit wieder zur Erde zurückzukehren. Welch erhabene Hoffnung, welch wundervolle Aussicht liegt hierin verborgen!  

Die vehikularen und kausalen Aspekte des Todes

Wenn wir uns dem Studium des Todes nähern – oder ebenso dem des Lebens, denn die beiden sind eins –, richten wir unsere Aufmerksamkeit zu oft auf die Körper, die natürlich von dem alldurchdringenden Leben beseelt sind, anstatt auf die inneren individuellen Essenzen, also auf das Bewusstsein selbst und auf seine Methoden und Prozesse der äußeren Manifestation in den Reichen der Formen. Dies ist durchaus natürlich und vernünftig, denn schließlich sind es die Körper, die sterben, und daher neigen wir während unserer Lebenszeit auch fast weltweit dazu, uns mit unserem physischen Vehikel zu identifizieren. Doch wir werden die Bedeutung des Todes und die Natur der nachtodlichen Zustände niemals verstehen, wenn wir uns allein auf die vehikularen Aspekte, die körperliche Seite konzentrieren.  

Im westlichen Denken wird im Allgemeinen zu viel Nachdruck auf die verschiedenen „Körper“ oder „Hüllen“ in der menschlichen Konstitution gelegt. Doch die Hüllen sind nur zeitweilige Vehikel, über uns geworfen von dem inneren Menschen, der eine Monade ist: ein flammender Strahl von der solaren Gottheit. Dieser monadische Strahl steigt durch alle Welten und Sphären des kosmischen Leben-Bewusstseins hinab, bis er den physischen Plan des Seins erreicht, wo er sich durch die Substanzen des verkörperten Menschen manifestiert, hauptsächlich durch Herz und Gehirn.  

Die Natur des Todes und seiner Phasen lässt sich daher am besten als das Gegenteil des vorhergehenden Prozesses erklären: als das Beiseitelegen von Hülle auf Hülle des Bewusstseins in regelmäßiger aufsteigender Reihenfolge, als das Ablegen eines ätherischen Körpers nach dem anderen, in den sich der Strahl oder Strom von Bewusstsein verwickelt hatte.  
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Die Zusammengesetztheit des Menschen

Was sind die Ursachen von Alter und Tod?
Eine der weniger bekannten Ursachen für den physischen Tod ist die Tatsache, dass sich das Entwicklungsfeld des menschlichen Bewusstseins selbst im Verlauf eines Erdenlebens über die Reichweite des physischen Körpers hinaus ausdehnt. Der Körper, der die Belastung fühlt, die auf ihn ausgeübt wird, tritt allmählich in eine Periode des Verfalls ein und gleitet in das Altern über, um schließlich wie eine abgetragene Hülle oder ein Kleid beiseite gelegt zu werden.

Eine kurze Zeit vor der Auflösung des physischen Körpers beginnen sich die inneren den Menschen zusammensetzenden Teile, das heißt seine inneren Prinzipien oder Elemente – dies bezieht sich hier hauptsächlich auf die niedere Vierheit –, auf ihren jeweiligen Daseinsebenen zu trennen, und der physische Körper fühlt dies rückwirkend. Er antwortet automatisch auf die beginnende Trennungstendenz der inneren Element-Prinzipien und bringt so den physischen Verfall des Alterns zuwege. Dieser Punkt ist von großer Wichtigkeit, denn er zeigt, dass der Tod nicht ursächlich im physischen Körper beginnt und danach die Auflösung der Bande der niederen unsichtbaren Element-Prinzipien einleitet. Der physische Körper „stirbt“ oder löst sich vielmehr in seine ihn zusammensetzenden Elemente auf, weil die niederen unsichtbaren Prinzipien selbst, die inneren Kräfte, Substanzen und Energien, das innere und kausale Leben der niederen Vierheit des Menschen, bereits begonnen haben, sich zu trennen. Der physische Körper folgt im Laufe der Zeit natürlich und unausweichlich nach.

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Der Tod wird daher in erster Linie von innen verursacht und nur in zweiter Linie von außen. Er umfasst einerseits die Anziehung des reinkarnierenden Egos aufwärts zu spirituellen Sphären und andererseits den fortschreitenden Verfall des astral-vital-physischen Vehikels. Somit findet der Tod in Übereinstimmung mit allen Prozessen des Lebens ursächlich und mit der Hilfe von innen statt und wirkt so nach außen.

Den vollständigen Artikel lesen Sie in:
Verborgenes Wissen – Der Mensch in Gegenwart und Zukunft, S. 205.