Leseprobe
„Alles lebt – es gibt nichts Totes“

von Hermann Knoblauch

Ist es möglich, dass wir eines Tages aufhören zu existieren, dass es ein endgültiges Ende gibt? Oder müssen wir andere Welten des Daseins, andere Bewusstseinszustände berücksichtigen als die, die wir bisher kennen?

Unsere Welt ist voller Leben! Wohin wir auch sehen, ob mit bloßen Augen, mit Weltraum-Teleskopen oder Mikroskopen: überall ist Bewegung, Austausch, Dynamik und Lebendigkeit zu erkennen. Nirgendwo lässt sich etwas Unbewegliches, Statisches entdecken. Selbst ein scheinbar lebloser Gegenstand, wie zum Beispiel ein Bleistift, ist inhärent voller Bewegung, voller Leben, denn er ist aus energiegeladenen, pulsierenden Atomen aufgebaut. 

Woran aber liegt es, dass dennoch der weitverbreitete Glaube vorherrscht, Leben könne aus toter Materie entstehen? In der Regel wird nicht berücksichtigt, dass das Universum und alles, was es enthält, auf Bewusstsein aufgebaut ist. Planeten, Sonnen und Universen, Pflanzen, Tiere und Menschen: sie alle sind zusammengesetzt, zusammengesetzt aus Körpern, die latent oder aktiv „Bewusstsein“ enthalten. Namhafte Wissenschaftler bezeichnen Materie daher als „verkörpertes Bewusstsein“. 

Diese tiefe philosophische Einsicht in Bezug auf ein von Leben und Bewusstsein durchdrungenes Universum, das aus Welten unterschiedlichster Element-Prinzipien gebildet wird, bedeutet: Stirbt oder verschwindet ein Teil einer Welt, dann leben die anderen Teile, die diese Welt als komplexe Wesenheit zusammengesetzt haben, in anderen Bewusstseinszuständen und -welten weiter. Es gibt nichts Totes – alles lebt! 

Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Wenn ein Mensch stirbt, ist lediglich der physische Vorgang sichtbar: Der Körper zerfällt. Der innere Mensch jedoch, sein Bewusstsein, seine Egoität, seine höhere Seele, lebt weiter, weil er aus verschiedenen Energien aufgebaut ist. Es sind diese inneren Kräfte, unser essenzielles Menschsein, das nun in andere Welten und Bewusstseinszustände übergeht und in ihnen weiterlebt. 

Im Grunde kennen wir diesen Prozess: Jede Nacht, wenn wir schlafen, ruht unser Körper, doch unser Ego erlebt bewusstseinsmäßig Träume in anderen Welten, wo es zu Hause ist. Wir sind in unserer physischen Welt „abwesend“, doch wir kehren beim Erwachen zu ihr zurück. 

Der Schlaf ist sozusagen ein „unvollkommener Tod“, denn wir bleiben in enger Verbindung mit unserem Körper. Beim Tod ist die Trennung unseres persönlichen Egos vom Körper jedoch endgültig. Erst nach einer langen Ruheperiode kehrt unser reinkarnierendes Ego[1] wieder ins Erdendasein zurück und baut einen neuen Körper auf. Dieser Vorgang wird Reinkarnation genannt. 

Die Natur ist also eine Fülle pulsierenden Lebens von unterschiedlichstem Bewusstsein, und wir sind durch Austausch und gegenseitige Beeinflussung (Karma) mit allen Lebewesen in den verschiedenen sichtbaren und unsichtbaren Welten verbunden. 

Der gewaltige, endlose und von Leben und Bewusstsein durchdrungene Kosmos birgt unvorstellbare Chancen der Entwicklung, sodass wir den Tod nicht zu fürchten brauchen. Alles lebt – es gibt nichts Totes. Unsere unsterbliche Individualität ist in ein zyklisches Stirb und Werde eingebettet. Wie klein werden da all unsere Sorgen und wie tröstlich der Ausblick in eine erhabenere Zukunft. 

Was ist Leben an sich? 

Unaufhörlich und vielfältig strömt der Kreislauf des Lebens durch alles, was wir mit unseren Sinnen erfassen können. Wir selbst sind ein untrennbarer Teil dieses Lebens – nichts an uns bleibt unveränderlich oder ist tot. Doch was ist Leben an sich? 

Diese Frage geht weit über eine rein biologische Lebensdefinition hinaus. Sie kann nur disziplinenübergreifend beantwortet werden – zum Beispiel in Verbindung mit Philosophie. Damit verlassen wir die Vorstellung, dass es so etwas wie „unbelebte“ Materie gäbe. Bereits Leibniz (1646–1716) führt in seiner Monadologie aus, dass es „nichts Ödes, Unfruchtbares oder Totes im Universum gibt“.[2] Interessant ist außerdem, dass Leibniz für seine Monadenlehre auch von dem seinerzeit bekannten theosophischen Arzt Franciscus Mercurius van Helmont angeregt wurde.[3] Schelling (1775–1854) betrachtet „unbelebte Materie als schlafendes Leben“.[4] Und für von Purucker (1874–1942) ist das Universum „ein ungeheuer großer Organismus, eine lebendige organische Wesenheit, die aus Myriaden von sichtbaren und unsichtbaren Welten besteht“.[5] Der dahinterstehende Gedanke ist: Alles lebt, es gibt nichts Totes. Leben ist also alles, was ist. Leben ist. 

Ein besonderes Kennzeichen allen Lebens ist, dass es nur in Verbindung mit Bewusstsein existiert. Leben ist Bewusstsein der verschiedensten Grade: Menschen, Tiere, Pflanzen – sie alle haben ihre jeweils eigene Art von Bewusstsein, aber nur der Mensch hat „Selbst-Bewusstsein“, das er im Laufe von Äonen evolviert hat. 

Doch wir können noch weiter gehen: Warum sollten lediglich Menschen, Tiere und Pflanzen Bewusstsein haben, warum nicht auch jene Kleinstlebewesen, von denen sie zusammengesetzt werden? Vom Mikrobereich der Atome und Moleküle bis hin in den Makrobereich der Planeten, Sonnensysteme und Galaxien: sie alle sind von Leben und Bewusstsein durchdrungen – ob wir es nun wahrnehmen oder nicht.

Kann Leben aus etwas Totem entstehen? 

In der Evolutionsbiologie ist die Auffassung verbreitet, das Leben sei auf unserer Erde aus einer unbelebten anorganischen Uratmosphäre oder „Ursuppe“ entstanden. Wäre es tatsächlich möglich, dass fühlende Lebewesen aus toter Materie entstehen? Wäre es möglich, aus Bauklötzen, Schrauben oder anorganischen Materialien ein Lebewesen herzustellen? Kann etwas Totes etwas Lebendiges aufbauen, ihm Energie, Leben und Bewusstsein geben? 

Dieser Gedanke erscheint unrealistisch. Und doch entspricht dieses Bild der bisher offiziellen Vorstellung der Naturwissenschaften darüber, wie das „erste Leben“ auf unserer Erde entstanden sein soll. Obwohl anerkannt ist, dass Leben nur aus Leben geboren wird, wird diese Tatsache für das „anfängliche“ Leben ignoriert. Doch philosophisch betrachtet stellt sich die Frage nach einem absoluten Anfang des Lebens nicht: Leben ist, es war immer und wird immer sein. Alles lebt, es gibt nichts Totes. 

Im Grunde genommen kann nur von einer großen Fülle der unterschiedlichsten Leben, des unterschiedlichsten Bewusstseins gesprochen werden. Und mit jedem dieser Lebewesen, seien sie für uns sichtbar oder unsichtbar, sind wir durch Austausch und gegenseitige Beeinflussung verbunden. 

Was bedeutet „Tod“? 

„Tod“ bedeutet das Ende eines Zyklus oder einer Lebensphase, der eine neue, andere Phase des Lebens folgt. Es gibt also keinen Tod an sich. Vielmehr geht am Ende des Lebens unser reinkarnierendes Ego in andere Zustände des Bewusstseins über. Es verarbeitet und assimiliert alles, was es während des vergangenen Lebens erlebt und gelernt hat. Wenn es karmisch bedingt die Anziehung zu einer neuen Verkörperung hin fühlt, kehrt es auf unsere Erde zurück – wir werden wiedergeboren. Phasen der Aktivität und des Lernens wechseln sich ab mit Phasen der Passivität und des Verinnerlichens.

Auch unser Körper „stirbt“ nicht wirklich bei unserem Tod. Zumindest nicht in dem Sinn, dass er vollständig vergehen würde. Im Gegenteil: er löst sich in seine Bestandteile auf, in jene Lebensatome, die den Organen und Zellen des Körpers zu deren Funktionen Leben verliehen. Sie hielten den Mikrokosmos „Mensch“ in seiner komplexen und wunderbaren Vernetztheit zusammen. Diese Lebensatome sind nun von der Oberherrschaft des Menschen befreit, lösen sich von dem Körper und gehen, losgelöst von ihren bisherigen Aufgaben, in die ihnen entsprechenden Naturreiche ein.

Wir sehen auch hier wieder: Alles lebt, es gibt nichts Totes!


Aus: Verborgenes Wissen – Der Mensch in Gegenwart und Zukunft, S. 13.

Fußnoten: [1] Reinkarnierendes Ego: der allgemeine Sitz des menschlichen Bewusstseins, der aufwärtsstrebende, höhere Teil. [2] Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie. Hamburg, 1882, Abs. 65–69. [3] s. auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Monade_(Philosophie). [4] Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Stefan Heiland: Naturverständnis. Darmstadt, 1992, S. 57. [5] Gottfried von Purucker: Der Mensch in der Unendlichkeit. Hannover, 1987, S. 5.